Alle Aufsatzformen im baden-württembergischen Abitur außer dem Essay erfordern eine bestimmte Art der Einleitung. Für meine Abiturienten habe ich versucht, diese Einleitung noch einmal zu erläutern und zu veranschaulichen. Als Beispiel habe ich den Gedichtvergleich (J.W. Goethes „Wanderers Nachtlied“ und A. von Droste-Hülshoffs „Der Weiher“) gewählt, weil es hier die meisten Rückfragen und Unsicherheiten gab. Die Aussagen gelten aber auch für den Werkvergleich, die Prosatextinterpretation und die Sachtextanalyse.
Eine gute Einleitung soll im Grunde drei Funktionen erfüllen:
1. Den Gegenstand benennen
Worüber schreibst du eigentlich? Einen literarischen Gegenstand benennt man am besten, indem man Titel, Autor, Textsorte, Erscheinungsjahr/-form (TATE) angibt.
Manchmal kann man diese Funktion durch einen sogenannten Basissatz erfüllen: J.W. Goethes Gedicht „Wanderers Nachtlied“ wurde 1780 geschrieben und erschien erstmals 1815 in Band I seiner „Werke“. Schöner wird das Ganze natürlich im Aktiv: J.W. Goethe schrieb sein Gedicht „Wanderers Nachtlied“ im Jahre 1780 und veröffentlichte es erstmals 1815 in Band I seiner „Werke“.
💡 Wenn du einen Gedichtvergleich schreibst, solltest du beide Gedichte benennen. Sie sind ja beide der Gegenstand, über den du schreibst.
2. Deine Interpretation des Gegenstands andeuten (Orientierungsfunktion für den Hauptteil)
Du (und dein Leser) brauchst einen Wegweiser, eine Leitlinie, die für deinen Hauptteil (die eigentliche Interpretation) die Richtung vorgibt. Daran kannst du dich beim weiteren Schreiben orientieren und der Leser versteht deine Ausführungen besser.
Um diese Funktion zu erfüllen, kannst du eine Interpretationshypothese – auch Interpretationsschlüssel genannt – formulieren. Sie/er benennt das Thema oder auch den Kern des Gegenstands: „Wanderers Nachtlied“ evoziert eine friedliche, einsame Abendstimmung inmitten der Natur und mahnt dabei an den Tod, an die Vergänglichkeit des Menschen. Das Gedicht thematisiert so die Stellung des Menschen im Kosmos.
💡 Bei einem Gedichtvergleich solltest du natürlich eine Interpretation zu beiden Gedichten andeuten UND beide Interpretationshypothesen aufeinander beziehen. Nur so erfüllt deine Einleitung die Orientierungsfunktion für den Hauptteil: […] Auch Annette von Droste-Hülshoffs „Der Weiher“ entwirft das Bild eines friedvollen, einsamen Naturerlebnisses, das dem lyrischen Ich einen Einblick in die Ewigkeit der Schöpfung gibt. Doch wo „Wanderers Nachtlied“ den Gedanken vom Ende, vom Abend, vom Tod her aufgreift, thematisiert „Der Weiher“ den Anfang, den Morgen, das Entstehen.
3. Lust aufs Lesen deines Aufsatzes machen, Interesse daran wecken
Ja, es ist durchaus nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, so zu schreiben, dass man deine Texte gerne liest. Die Einleitung ist der ideale Ort, um ein wenig verbalen Feenstaub zu verstreuen. Mit einem Bezug zu unserer heutigen Lebenswelt, der Annäherung an das grundsätzliche Thema deines Gegenstands oder einem knackigen Zitat könntest du dies beispielsweise bewerkstelligen. Möglich ist auch eine Anekdote: Als ich letztes Jahr zum ersten Mal auf den Gipfel eines Berges gewandert bin, geschah das nicht freiwillig. Meine Eltern mussten mich mit dem Versprechen auf einen späteren – von ihnen finanzierten – Einkaufsbummel praktisch bestechen. Als ich dann dreieinhalb Stunden nach dem Aufbruch im Tal und fünfeinhalb Stunden nach einem viel zu frühen Weckerklingeln endlich am Gipfelkreuz stand und um mich blickte, war jedoch Shopping plötzlich mein letzter Gedanke. Eine Unendlichkeit von Berggipfeln, Wolken und Himmel tat sich vor mir auf. Ich fühlte mich gleichzeitig wie ein Riese und wie ein Zwerg vor diesem Panorama. An dieses Erlebnis fühlte ich mich bei der Lektüre der beiden vorliegenden Gedichte erinnert.
💡 Für den Gedichtvergleich ist es sicherlich sinnvoll, dass sich der „Feenstaub“ auf das bezieht, was beiden Gedichten gemeinsam ist.
Übrigens
Das übergeordnete Thema für die Lyrikaufgabe in diesem Jahr ist „Natur“. Darauf solltest du dich in deiner Einleitung auch beziehen. Der Bezug zu diesem Thema kann es dir sicherlich erleichtern, den Kern/ das Thema der Gedichte zu identifizieren und den passenden „Feenstaub“ zu verstreuen. Nächstes Jahr ist das Thema dann „Reisen“.
Das Drama mit dem Drama (Die Kontextuierung)
Wenn der zu interpretierende Text aus einem größeren Werk entnommen wurde (zum Beispiel eine Szene aus einem Drama oder eine Textpassage aus einem Roman), ist es meist sinnvoll (oder sogar von der Aufgabe vorgegeben), den Handlungskontext zu erläutern. Dies ist dann die 4. Funktion der (dann deutlich längeren) Einleitung. Dafür bietet sich dann folgende Struktur/Reihenfolge an:
🥁 *Drumroll*: Lust aufs Lesen deines Aufsatzes machen und Themen des gesamten Werkes benennen
📖 Den Gegenstand benennen
⏯ Die vorangegangene Handlung zusammenfassen
🎯 Die Handlung der gegebenen Szene zusammenfassen
🔑 Interpretationsschlüssel für die gegebene Szene formulieren